Der Orang-Pendek

Der Dieb kam nachts ins Camp und stahl eine Anananas. Seine Fußspuren verrieten ihn, es war wieder der alte bekannte „Mr. Burglar“. Zwischen Mai und Juli 1995 hat er mehrmals die Nahrungsvorräte des Forschungsteams geplündert. Doch nie wurde er auf frischer Tat ertappt. „Mr. Burglar“ ist scheu – wie alle seine Artgenossen. Falls es sie überhaupt gibt.

Eine Journalistin namens Deborah Martyr ist von der Existenz der dieser seltsamen Menschenaffenart fest überzeugt. Sie fahndet schon seit Jahren in Bergen Sumatras nach den unbekannten Wesen. Mrs. Martyr befragt Einheimische, sammelt Augenzeugenberichte und nimmt Spuren im Urwaldboden auf. Mittlerweile kann die Engländerin zwischen drei verschiedenen Individuen unterscheiden: „Chubby Toes“ mit den rundlichen Zehen, „Marathon Man“ und der schon erwähnte „Mr. Burglar“. Die Journalistin behauptet, diese scheue Wesen schon mehrmals, wenn auch nur sekundenlang gesehen zu haben. Für ein Foto hat der kurze Augenblick nicht gereicht, aber sie kann die Geschöpfe genau beschreiben. Sie gehen aufrecht, sind bis zu 1,20 Meter groß, am ganzen Körper mit braunschwarzem Haar bedeckt und den Kopf schmückt eine längere Mähne.

"Wenn sie sich nicht bewegen, sieht man sie nicht", sagt Debbie. Erst kürzlich fiel ihr im Wald ein Stück Holz auf. Nach wenigen Sekunden, als sie wieder zurückschaute war es plötzlich verschwunden. Vielleicht war es wieder er – der Orang-Pendek (indonesisch: "Der kleine Mensch"), der legendäre Affenmensch Sumatras.

John McKinnon, der über zehn Jahre lang Orang-Utans auf Borneo erforscht hat, stieß auch eines Tages auf Spuren, die ihn verwirrten: "Ich kniete hin, um sie mir genauer anzuschauen. Sie ähnelten denen eines Menschen, aber stammten eindeutig von einem anderen Wesen. Mir lief es eiskalt über den Rücken. Die Fährte war dreieckig, ungefähr 15 cm lang und 10 cm breit. Die Zehen und die wohlgeformte Ferse sahen sehr menschlich aus, doch war die Fußsohle zu kurz und zu breit – und der große Zeh saß auf der Außenseite des Fußes."

Im Camp zeigte MacKinnon die Skizze, die er an der Fundstelle gemacht hatte, den einheimischen Mitarbeitern. Sie antworteten ganz spontan, daß es die Abdrücke eines Baututu seien (Baututu oder Batutut ist die Bezeichnung der Einheimischen auf Borneo für ein Wesen, daß offensichtlich dem Orang-Pendek auf Sumatra entspricht). Baututu ist angeblich eine sehr scheue, nachtaktive Kreatur, die vor allem von Wasserschnecken lebt. Er ist etwa 1,20 Meter groß und hat eine schwarze Mähne.

Es ist klar, daß es in diesen beiden Fällen um ein und dasselbe Wesen geht. Seit Jahrhunderten wird im Westen Sumatras von dieser Kreatur erzählt. Einer der ersten Europäer, die einen Orang-Pendek zu Gesicht bekamen, war ein holländischer Siedler im Jahre 1923. Auf der Wildschweinjagd beobachtete er ein haariges "Monster", das auf einem Baum saß. Für einen Moment trafen sich die Blicke des großen und des kleinen Menschen. "Seine Augen waren sehr dunkel und äußerst lebendig, sie sahen aus wie menschliche Augen", erzählte später der Jäger. Die Kreatur flüchtete aber in den Wald. Der Jäger zögerte zu schießen. "Als ich die wehenden Haare sah, da konnte ich einfach nicht abdrücken. Mir war, als würde ich einen Mord begehen."

Aber kommen wir jetzt zurück zu Mrs. Martyr. Sie kehrte immer wieder nach Sumatra zurück, um Beweise für die Existenz des Orang-Pendek zu finden. Augenzeugen legte sie Fotos von Siamangs, Gibbons und Orang-Utans vor. Niemand fühlte sich an den Orang-Pendek erinnert. Doch bei Bildern eines sitzenden Gorillas erkannten sämtliche Zeugen eine gewisse Ähnlichkeit. Nach Angaben der Augenzeugen ließ Debbie ein Phantombild zeichnen und erst mit diesem Bild hatte sie Erfolg. Es ist bemerkenswert, daß die Einheimischen über Hunderte von Kilometern hinweg das gleiche Tier beschrieben haben. In Gebieten, wo es weder Telefon noch irgendwelche andere modernen Kommunikationsformen gibt. Der Orang Pendek wird in den Berichten der Einheimischen als 1 - 1,20 m großes Wesen mit dem Aussehen eines breitschultrigen, behaarten Affens beschrieben, der aufrecht auf seinen kurzen Hinterbeinen geht.

Die Kettenfahrzeuge der Holzfällergesellschaften drängen immer tiefer in den Urwald, um das kostbare Tropenholz zu schlagen. Noch ist die Existenz des Orang-Pendek nicht bewiesen und schon ist sein Überleben in Gefahr. Die Beobachtungen waren vor 50 Jahren noch viel häufiger. Aktuelle Nachrichten werden nur mehr aus den entlegensten Winkeln des Nationalparks gemeldet. Debbie gibt aber nicht auf: "Wir sind zuversichtlich, den Orang-Pendek von der kryptozoologischen Liste streichen zu können."

Doch als was könnte sich der Orang-Pendek schließlich entpuppen? Als eine neue Menschenaffenart? Oder als etwas noch Spektakuläreres? Hatte nicht der junge holländische Anatom Eugene Dubois im vergangenen Jahrhundert an den Ufern des Solo auf der Nachbarinsel Java die Überreste eines Urmenschen entdeckt, der heute als Homo Erectus bekannt ist, sondern nur Fossilien einer noch lebenden Menschenaffenart? Spekulationen über Spekulationen. "Wenn es das ist, was wir glauben, dann stehen wir vor einer sehr wichtigen Entdeckung, die vielleicht unsere Lehrbücher neu schreiben läßt", sagt Dougles Muller, einer der bekanntesten Kryptozoologen.

 

Als Quelle diente mir vor allem ein im GEO 5/97 erschienener Artikel. Vom Autor dieses Artikels, Lothar Frenz, ist im März 2000 ein Buch mit dem vielversprechenden Titel: "Riesenkraken und Tigerwölfe - auf der Spur mysteriöser Arten" beim Rowohlt Berlin erschienen.

 

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